Oktober, 2021
Das kürzlich novellierte deutsche Klimaschutzgesetz sieht auf dem Weg zur Klimaneutralität 2045 ein wichtiges Zwischenziel vor: Bis 2030 müssen sämtliche Treibhausgas-Emissionen um mindestens 65 Prozent gegenüber 1990 gesenkt werden.
Zeithorizont bis 2030 für die Industriewende entscheidend
Im Jahr 2018 betrugen die Emissionen des Industriesektors in Deutschland 190 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente, welche mehrheitlich durch Unternehmen der energieintensiven Industriezweige verursacht wurden. Bis 2030 müssen diese Emissionen laut Sektorziel auf 118 Millionen Tonnen sinken. Das entspricht einer Reduktion von rund 57% gegenüber 1990. Eine hohe Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen, technische Restriktionen und kaum vermeidbare Prozessemissionen stellen den Sektor vor große Herausforderungen. Diese setzten zur Erreichung von nahezu Klimaneutralität in 2045 einen tiefgreifenden Wandel in den Grundstoffindustrien voraus. Dabei ist der Zeithorizont bis 2030 entscheiden, denn bis dahin muss es gelingen, CO2-neutrale Verfahren vom Pilot- und Demonstrations-Maßstab auf industrielles Niveau zu skalieren und wirtschaftlich zu betreiben.
Transformation der Industrie durch CO2-neutrale Prozesse
Die Produktion von Grundstoffen wie Rohstahl, Zementklinker, Olefinen, Ammoniak und Methanol ist besonders emissionsintensiv. Eine Umstellung dieser Verfahren auf (nahezu) CO2-neutrale Prozesse ist eine zentrale Grundlage der Transformation des Industriesektors. Durch Signalwirkungen entlang der Wertschöpfungskette kann diese Umstellung ebenfalls die Transformation in anderen Bereichen der Industrie beschleunigen. Die Szenarien gehen davon aus, dass erste Anlagen bereits ab 2025 in Betrieb gehen, gefolgt von einer stärkeren Verbreitung bis 2030. In der Stahlindustrie entspricht dies mindestens fünf Millionen Tonnen Rohstahlproduktion über Wasserstoff-Direktreduktion bis 2030 – also fast einem Fünftel der heutigen Primärstahlproduktion. Der Einsatz von Direktreduktion über Erdgas kann hier als Brückentechnologie dienen um den Aufbau entsprechender Produktionskapazitäten voranzutreiben.
Dekarbonisierung der Industrie vorantreiben
Im Jahr 2018 entstanden etwa zwei Drittel der CO2-Emissionen der Industrie durch die Bereitstellung von Prozesswärme, hauptsächlich durch die Nutzung von Kohle und Erdgas. Eine Umstellung auf eine CO2-neutrale Prozesswärmeversorgung ist damit ein wichtiger Bestandteil der Dekarbonisierung der Industrie. Die Studie schätzt, dass so Minderungen von bis zu 30 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente bis 2030 gegenüber 2018 erreicht werden können. Weitere wichtige Vermeidungshebel sind eine deutliche Steigerung der Energie- und Materialeffizienz, die verstärkte Nutzung von Kreislaufwirtschaft sowie der Einsatz von CO2-Abscheidung und Verwendung sowie Speicherung (CCU/S, Carbon Capture and Utilization / Storage) in der Zement- und Kalkherstellung.
Hohe Investitionen für Modernisierungen sind notwendig
In vielen Bereichen der Industrie sind Neubauten oder umfassende Modernisierungen des Bestandes notwendig. Im Zeitraum 2030 bis 2035 erreichen viele Anlagen der Chemie- und der Primärstahlindustrie das Ende ihrer rechnerischen Lebensdauer. Mögliche Re-Investitionen in fossile Anlagen sollten vermieden werden. Um den Wechsel von billigen fossilen Energieträgern auf teure CO2-neutrale Sekundärenergieträger (Strom, Wasserstoff, synthetisches Methan) zu gewährleisten, sind klare regulatorische Rahmenbedingungen sowie verlässliche Perspektiven für den wirtschaftlichen Betrieb notwendig.
Künftiger Strombedarf der Industrie wird eine große Herausforderung
In allen Szenarien werden zukünftig hohe Mengen an erneuerbarem Strom und Wasserstoff eingesetzt. Abhängig von dem gesetzten Technologie-Schwerpunkt verdoppelt sich der Stromeinsatz in der Industrie nahezu von heute 226 TWh (Terrawattstunden) auf bis zu 413 TWh in 2045. Im extremen Fall einer »Wasserstoffwelt« steigt der industrielle Einsatz von Wasserstoff auf bis zu 342 TWh in 2045, sowohl für die energetische als auch die stoffliche Nutzung. Der Einsatz von synthetischem Methan beträgt im Extremfall 347 TWh in 2045. Die Verfügbarkeit von CO2-neutralem Strom, Wasserstoff oder synthetischem Gas ist somit eine Grundvoraussetzung für das Erreichen der Klimaziele im Industriesektor. Bereits bis 2030 werden signifikante Mengen dieser klimaneutralen Sekundärenergieträger in der Industrie benötigt, um das Sektorziel des Klimaschutzgesetzes zu erreichen. Dies sollte beim Aufbau von Infrastruktur für Transport und Erzeugung berücksichtigt werden, so die Studie.
Dr. Andrea Herbst, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Competence Center Energietechnologien und Energiesysteme am Fraunhofer ISI, stellt abschließend fest: »Ein nahezu klimaneutraler Industriesektor im Jahr 2045 ist möglich, aber mit sehr hohen Anstrengungen verbunden. Zentrale Herausforderungen sind die höheren laufenden Kosten CO2-neutraler Technologien, der Infrastrukturausbau, die effektive Umsetzung von CO2-Preis-Signalen entlang der Wertschöpfungsketten und die Reduzierung von Unsicherheiten bezüglich großer strategischer Investitionen sowie eine klare Perspektive für den wirtschaftlichen Betrieb von CO2-neutralen Verfahren. Dies muss begleitet werden von einer Erweiterung des regulatorischen Rahmens, welche deutlich über die derzeit implementierten und beschlossenen Maßnahmen hinausgeht.«